„Hinsehen, nicht wegsehen“
VON: REDAKTIONSTEAM ESA
Sr. Dr. Goetzens, wie sind Sie zur ESA gekommen?
Eigentlich zufällig. Ich bin 1988 nach Frankfurt gekommen und wollte Allgemeinmedizinerin werden. Daneben habe ich ich mit den Augen einer Ordensfrau geschaut, wie ich Bedürftigen in der Stadt helfen kann. Über eine Straßenzeitung bin ich 1993 auf die Gründung der ESA aufmerksam geworden und habe den Kontakt zu Sr. Ursula Schück, der Gründerin der Einrichtung, gesucht. Zunächst arbeitete ich einmal in der Woche ehrenamtlich in der Sprechstunde des Tagesaufenthalts für Wohnungslose im Ostend mit. Dort habe ich erfahren, dass Menschen auf der Straße krank sind - kränker, als ich vermutet habe, und Hilfe brauchen. Der zweite Anstoß war meine ärztliche Tätigkeit in einer Klinik in Frankfurt. Vor allem bei Nachtdiensten habe ich gesehen, dass Menschen von der Straße anders gekleidet sind und oft als unliebsame Patienten wahrgenommen werden. So sind zwei Stränge zusammengekommen und führten zu meinem Engagement bei der ESA.
Was hat Sie dazu bewegt, ins Hauptamt zu wechseln?
Nach drei Jahren bin ich 1996 ins Hauptamt gegangen, aus der Erfahrung heraus, dass die Not größer ist, als sie sich zunächst abzeichnet. Und dass es natürlich einen Unterschied macht, ob ich einmal pro Woche jemanden punktuell sehe oder ob ich täglich hier bin und umfassender agieren kann. Dieses ganztägige Engagement bestand erstmal auf Zeit. Wir wussten ja nicht, ob es diese Einrichtung in zehn oder 15 Jahren noch geben wird, wie sie sich finanziert bzw., ob der Caritasverband Frankfurt genügend Eigenmittel und Zuschüsse für eine dauerhafte Finanzierung haben würde. Nach 25 Jahren gibt es diesen Dienst immer noch, sogar umfänglicher als vorher. Das liegt u.a. daran, dass wir immer wieder auf die sich zeigenden Nöte reagieren konnten, unseren Dienst auf den Bedarf kranker wohnungsloser Menschen abgestimmt haben. Parallel dazu haben sicherlich die konsequente Vernetzung in der Fachwelt und eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit
dazu beigetragen.
Inwiefern haben sich die Bedürfnisse seit Gründung der ESA geändert?
Das Ziel war und ist, die Menschen, die auf der Straße leben und damit aus der Versorgung herausfallen, ins medizinische Regelsystem zu begleiten: Damit sie einfach zum Hausarzt oder ins Krankenhaus gehen können. Hier haben wir in den letzten Jahren viel erreicht. Inzwischen gab es verschiedene Reformen, die strukturelle Hürden gebaut haben, z. B. das Versichertenkärtchen, die Zuzahlung und Praxisgebühr. Diese Hürden haben eine Rückführung zusätzlich erschwert. Zweitens hat sich der Personenkreis geändert. Wir betreuen heute bis zu 70 Prozent Menschen mit anderen Nationalitäten. In den Gründungsjahren hatten wir noch keine 10 Prozent, d. h. wir sind viel internationaler geworden. Drittens kommen auch Menschen zu uns, die zwar einen Leistungsanspruch haben, aber bedingt durch Krankheit oder andere Ereignisse aus dem sozialen System herausgefallen sind. Wer heute krank, nicht versichert und ohne Arbeit ist, muss erstmal zum Jobcenter gehen. Dort wird er als arbeitsfähig oder arbeitsunfähig anerkannt und kann dann erst - eventuell - Unterstützung vom Sozialamt erhalten. Es ist also viel komplizierter geworden, schnell Hilfe zu bekommen.
Ein letzter, fachlicher Aspekt: Auch die Krankheitsbilder, die die Menschen aufweisen, sind komplexer geworden. Wir haben einen deutlichen Anteil von Menschen, die psychiatrisch erkrankt sind, d.h. beispielsweise an einer Depression, Wahnvorstellungen oder Psychosen leiden. Das sind für uns die herausforderndsten Patienten.
Was inspiriert und motiviert Sie in der täglichen Arbeit?
Als allererstes sind es die Menschen, die zu uns kommen. Auch wenn es gesellschaftlich auf den ersten Blick nicht so durchscheint, sind das wunderbare Menschen, die einen Überlebenswillen mitbringen, der mich staunen lässt. Auch mein Glaubenshintergrund als Christin spielt eine Rolle, denn jedem Menschen ist ein Leben in Fülle zugesagt. Daran mitzuwirken, finde ich höchst inspirierend. Außerdem ist die Netzwerk- und Teamarbeit ein wunderbarer Ansporn, bei der ESA zu bleiben. Denn nur gemeinsam können wir es schaffen, die schwierigen Lebensumstände vielleicht zu verbessern und hoffentlich zu verändern.
Außerdem, die Geschichten der Menschen vergisst man nicht. Wir geben ihnen einen Vertrauensvorsprung, aber wir bekommen enorm viel Vertrauen zurück. Und das von Menschen, die eigentlich draußen sind, weil sie niemandem mehr trauen können oder einfach enttäuscht sind vom Leben. Tragfähige Beziehung aufzubauen ist etwas Wunderbares. Das überwiegt aber leider nicht die schwierigen Erfahrungen, die wir auch machen.
Was bedeutet für Sie Erfolg bei der Arbeit in der ESA?
Für viele von uns ist es ein Erfolg, wenn ein Patient herkommt und es aushält, hier zu sein. Wenn er noch in der Lage ist, sich vorne anzumelden, seinen Namen zu sagen und es zulässt, dass seine Füße gewaschen werden oder sogar ein Doktor ihn untersucht - all das sind für uns Erfolgsmarker. Unsere Sorgenkinder sind die, die nicht zu uns kommen. Auch sie sind der Ansporn für mich, diese Arbeit fortzusetzen. Ich weiß von etlichen, die nicht in den Statistiken der Stadt und der Krankenhäuser erscheinen, weil sie im Auto, auf der Parkbank, in der Gartenhütte, unter der Brücke oder im Wald leben und uns doch verraten, wo sie sind.
Welche Aufgaben haben Sie als Leiterin der ESA neben der medizinischen Versorgung von kranken wohnungslosen Patienten?
Am liebsten arbeite ich natürlich mit den Patienten, das ist auch ein nicht unerheblicher Teil meiner Tätigkeit hier. Daneben koordiniere ich den reibungslosen Ablauf - in einem Team von mittlerweile zwölf hauptamtlichen und mindestens 30 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dabei ist es auch meine Aufgabe, die Dienste so zu gestalten, dass wir wirklich auf die Nöte antworten können. Das heißt, ich muss schauen, dass alles da ist, was für unsere Arbeit gebraucht wird: Kleidung, finanzielle Mittel etc. Die Zuschüsse decken natürlich nicht den Gesamthaushalt eines solchen Dienstes, deshalb ist auch Öffentlichkeitsarbeit so wichtig: "to make the cause known", würde man auf Englisch sagen, also davon zu erzählen, was die ESA macht und was sie für ihre Arbeit benötigt.
Ihr Engagement geht ja aber noch einen Schritt weiter …
… Ja, wir halten auch nicht damit zurück, unsere Stimme in der Fachwelt zu erheben. Zu diesem Zweck haben wir uns schon vor 20 Jahren in einem Netzwerk AG Med organisiert, der Arbeitsgemeinschaft Medizinische Versorgung Wohnungsloser. Dies geschah auf Initiative der Frankfurter, Mainzer und Kölner Kolleginnen und Kollegen. Uns reichte es nicht, nur Wunden zu verbinden, wir wollten auch strukturell etwas ändern. Infolge haben wir uns zu dieser Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen - ihr Fachwissen fließt in einen Dachverband der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Dort arbeite ich seit geraumer Zeit im Fachausschuss "Gesundheit" mit. Wir versuchen, klein, aber doch stetig Einfluss zu nehmen, damit die prekären Lebenslagen der Menschen und ihre gesundheitliche Situation bekannt und dokumentiert werden, sodass sich die Politik damit beschäftigt und vielleicht doch im Einzelfall oder hoffentlich auch grundsätzlich weiterhin etwas ändert.
Wo wünschen Sie sich Unterstützung? Wie können die Frankfurter helfen?
Zum einen darf man nicht verhehlen, dass die Frankfurter schon gut dabei sind. Aber sie können noch besser werden. Das erste ist "hinsehen, nicht wegsehen". Sagen Sie uns Bescheid, rufen Sie beim Kältebus des Frankfurter Vereins oder bei der ESA an, wenn Sie Menschen sehen, die wohnungslos sind, irgendwo liegen, bedürftig sind oder ärztliche Hilfe benötigen. Spenden helfen uns sehr: Unsere Kleiderkammer lebt ausschließlich von den Beiträgen der Frankfurter und anderer.
Es wäre fatal, wenn dieser Strom abreißen würde. Das ist eine Art Dauerbrenner, auf diese Unterstützung sind wir immer angewiesen. Auch im Bereich der Pflege und der medizinischen Versorgung haben wir nicht unerhebliche Ausgaben für diejenigen, die nicht versichert sind. Weniger als 40 Prozent der Patienten haben eine Krankenversicherung, für alle anderen sind wir dank der Unterstützung von der Stadt und vielen kleinen und großen Spendern in der Lage, z. B. Medikamente zu kaufen. Ohne Unterstützung, vor allem ohne ehrenamtliches Engagement von Einzelnen, könnten wir den Dienst nicht fünf Tage die Woche aufrechthalten und schon gar nicht in dem Maß.