Tanz auf dem Vulkan
Von: Andrea Knechtel
Isabell K. findet den Weg zu unserem Dienst, durch ihre Nachbarin Frau Jutta M. Sie ruft äußerst besorgt bei uns an und berichtet, dass Isabell K. wohl alles über den Kopf wachse. Bei unserer ersten Begegnung steht Isabell unten an der Haustür und erwartet mich schon. Sie lächelt mich an. Vor mir steht eine sympathische 37 Jahre alte Frau, die zunächst einen ganz patenten Eindruck macht. Das Bild ändert sich schnell beim Betreten der Wohnung. Alles wirkt chaotisch, zugebaut. Es gibt kaum Platz um sich zu setzen. Isabell K. ist sehr offen und berichtet, sie sei mit allem überfordert.
Borderline - was ist das?
Die Bezeichnung BS kommt aus dem Englischen - auf der Grenzlinie sein. Eine Erkrankung die zwischen einer Neurose und Psychose anzusiedeln ist. Typisch für diese psychische Erkrankung sind Impulsivität, instabile zwischenmenschliche Beziehungen, rasche Stimmungswechsel und ein schwankendes Selbstbild. Betroffene zeigen problematische und teilweise paradox wirkende Verhaltensweisen in sozialen Beziehungen und sich selbst gegenüber.
- Oft fühle ich mich antriebslos. Ich steh‘ auf und bin total motiviert. Plötzlich wird mir bewusst: Wie soll ich den Tag rumkriegen? Ich will was machen, aber es geht nicht. Ich kann nicht, bin wie gelähmt und dann ziehe ich mir die Decke über den Kopf und sehe nur noch den Tunnel-Ausschnitt. So sitze ich manchmal stundenlang da.
- Alles ist zu viel. Ich fange an zu flattern, komme nicht mehr raus. Herzklopfen. Hyperventilieren. Dann entsteht eine dumpfe Rauchwolke in meinem Kopf und ich möchte mich nur noch spüren.
Leiden bis zur Selbstverletzung
Menschen mit Borderline leiden sehr - viele von ihnen so sehr, dass sie drastische Mittel ergreifen, um die innere, unerträgliche Spannung abzubauen. Sie verletzen sich selbst - ein Versuch, das quälende Gefühlschaos unter Kontrolle zu bringen, sich selbst wieder zu spüren. Manchmal ist selbstverletzendes Verhalten aber auch ein versteckter Hilferuf an Freunde und Familie. Nicht wenige Betroffene gefährden sich zudem auf andere Weise. Sie nehmen Drogen, fahren zu schnell, trinken zu viel Alkohol, praktizieren riskanten Sex oder gefährliche Sportarten. Etliche leiden an weiteren psychischen Störungen wie: Essstörungen, Depressionen, Suchterkrankungen oder ADHS
- Bei mir bedeutet spüren, dass ich mich selber in den Arm beiße - manchmal bis es blutet. Oder meinen Arm an der Hauswand entlangschleife, als sei er ein Wetzstein.
Hintergründe
Neben einer gewissen Veranlagung gelten traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit als wichtiger Auslöser für das BS. Etliche Betroffene haben Missbrauch oder Misshandlungen, Vernachlässigung oder emotionale Kälte erlebt. Ihre Eltern waren manchmal gleichzeitig Beschützer und Täter. Solche stark widersprüchlichen Gefühle gegenüber einer engen Bezugsperson können die kindliche Psyche überfordern. Experten betonen allerdings, dass BS-Patienten ebenso in "ganz normalen" Familien vorkommen. Forscher versuchen außerdem herauszufinden, ob es hirnorganische Veränderungen gibt, die eine Erkrankung fördern.
- Mit zwölf Jahren ging es los. Ich durfte nicht darüber reden. Vorher war alles okay. Mit sechs Jahren wurde ich missbraucht und dann meine Cousine. Sie hat sich geoutet und alles kam raus. Der Täter, ihr Vater, kam dafür ins Gefängnis. Dann wollte ich auch darüber sprechen, meine Mutter wusste es. Aber ich durfte nicht.
Hilfe, aber wie?
- Das Betreute Wohnen bietet mir einen geschützten Rahmen an und ist eine gute Struktur in meinem Leben. Ich nehme an fast allen Freizeitmaßnahmen teil und bekomme dadurch einen Ausgleich zu meiner Krankheit.
- Meine Sozialarbeiterin fängt mich immer wieder auf. Oft komme ich flatternd in die Beratung und fühle mich ein brodelnder Vulkan. Doch dann werde ruhiger. Sie kennt mich gut.
Andrea Knechtel ist als Sozialarbeiterin im Betreuten Wohnen des Caritasverbands Frankfurt e. V. tätig.