„Eigentlich nur routinemäßiges Krisenmanagement“
So nebenbei, während sie einen Patienten versorgt, zeigt Maria Goetzens den Schuh, den er gerade ausgezogen hat: "Mit solchen Schuhen laufen unsere Patient*innen oft durch die Stadt - da ist mehr Stoff als Sohle dran." In der ESA bekommen Menschen ohne Wohnraum oder Obdach für alle körperlichen Belange eine Hilfestellung - auch neue Schuhe, die im Winter vor der Kälte schützen. Im Wartezimmer sitzen Personen - den Kopf auf den Tisch gelegt - und warten, bis sie dran sind. "Wenn sie nachts keinen guten Schlafplatz gefunden haben, kommen sie manchmal so erschöpft hier an, dass sie einfach einschlafen. Unser Wartezimmer ist ein geschützter Raum, den Obdachlose in ihrem Alltag nicht besitzen."
Diese Realität erschüttert Maria Goetzens am meisten: Die Hygienekonzepte und Regeln des Gesetzgebers schränken die Möglichkeiten der ESA, das Bedürfnis ihrer Klientel nach Pause zu befriedigen, enorm ein. "Wir haben keine offene Sprechstunde mehr und es dürfen auch nicht mehr so viele Personen wie vorher im Warteraum Platz nehmen. Damit können wir auch nicht mehr so vielen Menschen die Möglichkeit geben, sich für eine Verweildauer bei uns zurückzuziehen."
Risikopatient*innen ohne Zufluchtsort
Besonders für psychisch Kranke sind die Räume der ESA oftmals ein Rückzugsort, an dem sie sich für eine Weile geschützt fühlen können. Da zumeist auch körperliche Beschwerden vorliegen, die vom Team behandelt werden, können die Personen für einen kurzen Moment durchatmen. Im Pandemieplan tritt dies leider in den Hintergrund: "Für unsere Patient*innen waren die kalten, regnerischen Wintertage besonders herausfordernd, weil sie sich nicht mehr im Wartezimmer aufwärmen konnten. Es fehlen Schutzräume für diejenigen, die am meisten Schutz benötigen", betont Goetzens.
Als routinierte Krisenmanagerin fiel Maria Goetzens auch dazu eine Lösung ein, die sie mit ihrem Team in den neuen Alltag integrierte. "Es darf zwar nur eine begrenzte Anzahl von Menschen zu uns rein - aber die, die draußen stehen werden jetzt zumindest nicht mehr nass: Jeden Morgen bauen wir einen Zeltling auf, unter dem sich die wartenden Personen versammeln können", erklärt sie. "Oder ein Kollege, der normalerweise mit dem Kältebus im Winter durch die Stadt fährt und Ausschau nach Obdachlosen hält, geht jetzt eben mit einem Rucksack los. Im Bus darf er die Obdachlosen nicht mehr mitnehmen. Medizinische Versorgung, den warmen Tee oder Decken bietet er mit dem Rucksack an." Kleine Dinge, die große Wirkung haben - geübtes Krisenmanagement eben.
Maria Goetzens ist die Leiterin der Elisabeth-Straßenambulanz (ESA), der Anlaufstelle für medizinische Betreuung für Wohnungs- und Obdachlose in Frankfurt. In den Ambulanzräumen in der Innenstadt werden alle medizinischen Bereiche abgedeckt - von organischer und psychischer Erkrankung, Physiotherapie bis zu zahnärztlicher Versorgung und Notfallbehandlungen aller Art. Bei Bedarf werden die Hilfesuchenden an spezialisierte Hilfestellen weitervermittelt.