„Am Himmel sind noch blaue Streifen“
VON: ANDREA KNECHTEL
Ich stehe vor seiner Tür. Er macht nicht auf. Ich drücke erneut auf die Klingel und weiß jetzt schon, dass die Tür sich nicht öffnen wird, höre die Stimme meiner Chefin: "Gehen sie da bloß nicht alleine rein." Ich überlege kurz, dann stecke ich den Schlüssel in das Schloss. Die Tür zum Wohnzimmer ist zu. Ich rufe seinen Namen, lausche. Nichts. Nur das stetige Blubbern seines Sauerstoffgeräts. Ich öffne vorsichtig die Tür, sehe den Schlauch auf dem Boden und folge ihm mit meinem Blick. Er ist nicht im Wohnzimmer. Der Schlauch führt weiter in das Schlafzimmer. Auch diese Tür ist zu. Ich rufe wieder. Dann sind sie wieder da. Die Worte meiner Chefin.
Die Entscheidung fällt innerhalb von Sekunden. Ich gehe zurück in das Treppenhaus und rufe den Rettungsdienst an: "Warum gehen sie nicht rein und schauen selbst?" Ich stammele: "Tja, ich hatte selbst erst einen privaten Todesfall, noch keine vier Wochen her und meine Nerven sind nicht die Besten." Sie kommen. Wir gehen zusammen. Sie zuerst, ich hinterher. Er liegt im Bett. Splitternackt. Die Kleider hat er von sich geworfen. Er lebt. Gott sei Dank. Aber in einem schlimmen Zustand. Die Augen sind ganz groß, der Kopf wirkt winzig. Sie strahlen. Aber das Gesicht hat schon dieses bestimmte Aussehen. Zu Viele habe ich schon begleitet, privat und im Dienst. Der Krebs hat sein eigenes Gesicht.
Eine Woche vorher
Ich bin bei ihm. Er gefällt mir nicht. Er ist anders. Sein Aussehen und überhaupt. Wir besprechen die Anbindung an einen Palliativ-Dienst. Für ihn ist klar, er will Zuhause sterben. Ich nehme telefonisch Kontakt auf. Sie wollen nächste Woche zum Haus besuch kommen. Sie rufen mich noch einmal an, wegen des genauen Termins.
Ich rufe ihn am Freitag an, will ihm den Termin nennen. Er geht nicht dran. Nicht ungewöhnlich. Oft ist er einkaufen. Ich spreche auf den Anrufbeantworter und bitte ihn, sich zu melden.
Das tut er nicht. Am Montag halte ich es nicht mehr aus, nehme seinen Hausschlüssel und fahre zu ihm.
Die letzte Reise beginnt
Ich bin jeden Tag bei ihm. Er kann nicht mehr nach Hause, soll ins Nordwest-Krankenhaus auf die Palliativstation verlegt werden. Daheim könne er nicht mehr bleiben. Da ist sie jetzt, die Gewissheit, wohin die Reise gehen wird. Er ist einverstanden.
Es gefällt ihm dort, so eine ruhige Atmosphäre. Alle sind so nett. Es ist viel angenehmer als auf der normalen Station. Er fühlt sich wohl.
Jeden Tag wird der Zustand schlechter. Es ist Montag und ich komme am späten Nachmittag zu ihm. Er strahlt mich an. Zeigt mir seinen frisch rasierten Schädel und den gestutzten Bart. "Ich will schön sein, wenn ich gehe", sagt er. Wir reden über das Sterben, als wenn wir uns darüber unterhalten würden, was er sich heute zu Mittag kochen möchte. Das waren oft wichtige Themen für ihn: Essen, Kochen, gesunde Ernährung. Er hat die sauberste Wohnung, die ich kenne. Er war viele Jahre wohnungslos, in einer Gartenhütte kam er unter. Er hat immer gearbeitet, als Tagelöhner. Dann wurde er so krank, dass er nicht mehr konnte. Auch in der Hütte ging es nicht mehr. Er bekam eine Wohnung. Anschließend kam er zu uns. Zehn Jahre ist das jetzt her.
Die finale Phase
Am Dienstag meldet sich morgens die Ärztin. Es gehe ihm schlecht und er möchte Medikamente gegen die Schmerzen. Morphium. Es könne sein, dass er dann nicht mehr lange bei Bewusstsein ist. Sie soll warten.
Ich renne los. Will ihn noch mal sehen. Bei ihm sein. Sie warten tatsächlich. "Ich will nicht mehr", höre ich immer wieder. Er bittet mich, mit den Schmerzmitteln beginnen zu können. Ich gehe raus und hole die Ärztin. Sie gibt ihm die Medikamente.
Ich halte seine Hand. Rede mit ihm. Sage ihm, dass wir uns auf der anderen Seite irgendwann wieder se-hen werden - das ist meine Überzeugung. "Hoffentlich", sagt er. So sitze ich bei ihm. Es vergehen Stun-den. Irgendwann ist er nicht mehr ansprechbar, aber ich spreche weiter mit ihm. Ich halte seine Hand, benetze seine Lippen mit Wasser und Creme. Manchmal gehe ich raus und hole mir einen Tee. Die Atmung wird immer schwächer. Immer flacher. Nur noch ein Hauch. Ich sitze Stunden bei ihm.
Ich habe schon oft erlebt, dass manche Menschen schlecht sterben können, wenn sie nicht alleine sind. Ich verabschiede mich von ihm. Bedanke mich für die Zeit und sage ihm, dass ich viel von ihm gelernt habe. Er war eine Persönlichkeit. Er hatte Charakter.
Innere Zufriedenheit
Ich verabschiede mich auf der Palliativstation und gehe langsam Richtung Bus. Es ist Januar. Sehr kalt. Der Himmel hat noch blaue Streifen. Eine tolle Dämmerung. Ich schaue immer wieder nach oben und lasse sacken, was ich in den letzten Stunden erlebt habe.
Das Handy klingelt. Es ist das Krankenhaus: "Sie sind gegangen, ich bin vielleicht fünf Minuten später zu ihm und da war er schon tot." Ich bin beruhigt, dass er so schnell losgelassen hat, bin zufrieden mit dem Tag. Erschöpft, aber glücklich und dankbar, dass ich die Kraft hatte und diesen Weg mit ihm gehen konnte.
Eine Freundin hat mal zu mir gesagt, es gibt Menschen, die haben Herzensbildung. Die hatte er.
Klaus Dieter N.
Oktober 1953 - Januar 2016