„Ich will mich nicht ausruhen, sondern lernen“
Von: Bistum Limburg
Baraa lacht viel und scherzt gerne. Dabei hat der junge Syrer, der nach Deutschland geflohen ist, eigentlich selbst wenig zu lachen.Bistum Limburg
Viel Zeit hat Baraa nicht mehr, um am Gleis eine ältere Damen abzuholen und ihr beim Umsteigen zu helfen. Mit einem leeren Rollstuhl und hohem Tempo schlängelt sich der junge Mann an einem Dienstag im Frankfurter Hauptbahnhof durch die Passanten. Am Gleis fährt gerade ein ICE ein. Die Bremsen quietschen. Irgendwo in dem riesigen Kopfbahnhof schallen aus einem Lautsprecher per Bandansage Zugverbindungen. Es herrscht ein geschäftiges Kommen und Gehen. Doch Hektik will bei Baraa nicht aufkommen: "Ich hatte gestern einen Transfer von Gleis 9 zu Gleis 24. In weniger als fünf Minuten. Das war wirklich knapp!", sagt der junge Mann locker und grinst.
Menschen in Not helfen
Dunkle hochgekämmte Haare, Vollbart und Brille. Der schlaksige junge Mann hat ein bisschen was von einem Hipster, wäre da nicht die blaue Weste mit rotem Kreuz auf gelben Band, dem Emblem der Bahnhofsmission. Seit April 2017 macht Baraa dort mit Unterstützung durch das Bistum Limburg einen Bundesfreiwilligendienst. Mit Obdachlosen und Drogensüchtigen, Gestrandeten in Nöten oder Menschen mit Handicap hat Baraa fast täglich zu tun. Er stellt für das Sozialamt Fahrkarten aus, hilft beim Umsteigen, schenkt Wasser und Kaffee aus oder gibt Auskunft bei Fragen. "Und manchmal sitze ich auch einfach nur da und warte darauf, dass jemand meine Hilfe braucht", sagt er und lacht.
„Ich versuche besonders freundlich zu sein. Dann komme ich auch mit den Leuten einfacher ins Gespräch.“ Bistum Limburg
Baraa lacht viel und scherzt gerne. Dabei hat der junge Syrer, der nach Deutschland geflohen ist, eigentlich selbst wenig zu lachen. "Der Bürgerkrieg hat nur Verlierer produziert. Und meine Familie hat viel verloren", erzählt er nachdenklich. Als mehrere Cousins getötet werden, entschließt sich der 19-Jährige gegen den Willen seiner Eltern zur Flucht. "Alle waren dagegen", erinnert er sich. Seit Dezember 2015 lebt er nun in Deutschland. Sein Deutsch ist beeindruckend gut. Vor dem Bürgerkrieg hätte auf den Sohn eines Unternehmers wohl eine privilegierte Zukunft gewartet. Jetzt kämpft er um Asyl und Zukunftsperspektiven.
Freiwilligendienst als Sprungbrett
"Die Flucht nach Deutschland ist für mich und meine Zukunft am besten", sagt Baraa. In Syrien gebe es keine Zukunft. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht, sagt Baraa frustriert. Den Freiwilligendienst in der Bahnhofsmission nutzt der 19-Jährige bewusst als Sprungbrett. Vor dem Beginn seines Studiums will er seine Sprachkenntnisse weiter aufpolieren, Menschen und Arbeitsalltag in Deutschland kennenlernen, etwas Sinnvolles tun. Bei der Bahnhofsmission könne er viele Erfahrungen sammeln. "Wir haben wirklich mit allen Menschen zu tun. Viele verschiedene Religionen und Nationalitäten." Gegenseitiger Respekt sei da besonders wichtig. "Ich will mich nicht ausruhen, sondern lernen", betont Baraa während des Besuches mehrmals. Deshalb habe er sich auch einen Sprachkurs selbst finanziert.
"Baraa ist ein ehrgeiziger junger Mann, der sich selbst unter großen Erfolgsdruck setzt", berichtet Diakon Carsten Baumann, Leiter der Bahnhofsmission. Der Freiwilligendienst sei für den selbstbewussten Syrer eine der wenigen Chancen, hier Fuß zu fassen. Natürlich führten unterschiedliche Mentalitäten ab und an zu Meinungsverschiedenheiten und Konflikten. Aber auch das gehöre zum Freiwilligendienst dazu. "Wir sind hier eine christliche Einrichtung und wollen mit gutem Beispiel vorangehen."
Baraa hat mittlerweile die ältere Dame gefunden. Der Rollstuhl steht bereit. Vorsichtig hebt er die Füße auf die Ablage. Während er seine Passagierin zum nächsten Gleis schiebt, macht er für die Frau noch einen kurzen Stopp bei einem Getränkeautomaten. "Ich versuche besonders freundlich zu sein. Dann komme ich auch mit den Leuten einfacher ins Gespräch." Small-Talk gehört dazu: Über das Wetter, das Reiseziel, über sich selbst. "Manchmal erzählen sie mir auch etwas aus ihrem Leben", freut sich Baraa. Wenig später fährt der Anschlusszug ein. Schnell drückt ihm die Dame noch ein kleines Trinkgeld in die Hände. Der junge Mann stützt die ältere Dame und gibt Halt beim Einsteigen. Den Zug darf er nicht betreten. Dann ist seine Aufgabe erledigt. Baraa grinst.
Bahnhofsmission Frankfurt
Die Frankfurter Bahnhofsmission existiert bereits seit 121 Jahren. Ob Kinder, Senioren oder Wohnungslose, Alleingelassene, Einsame oder Menschen mit Behinderung - an Gleis 1 finden Menschen unabhängig ihrer Nationalität, Herkunft oder Religion rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr Hilfe. Zum Team gehören 20 Hauptamtliche sowie 65 Ehrenamtliche, die für ihren Einsatz in der Bahnhofsmission besonders qualifiziert wurden. 2016 verzeichnete die Bahnhofsmission 140.000 persönliche oder telefonische Kontakte. Täglich nehmen etwa 250 bis 300 Menschen die Hilfe in Form von Auskünften, Beratungs-, Seelsorge- und Kriseninterventions-Gespräche in Anspruch. Die Bahnhofsmission wird vom Caritasverband sowie dem Diakonischen Werk Frankfurt getragen.
Hintergrund | Freiwilligendienste im Bistum Limburg
Das Bistum Limburg unterstützt seit Januar 2016 das Sonderprogramm des Bundesfreiwilligendienstes finanziell und personell. 43 Menschen haben bisher in katholischen Kindertagesstätten, Familienberatungsstellen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, Kleiderkammern, Tafeln oder in Pfarrgemeinden einen Freiwilligendienst mit Fluchtbezug geleistet. Darunter sind 17 Geflüchtete. Die Freiwilligendienstleistenden treffen sich monatlich zu Schulungen und erhalten gegebenenfalls auch eine Sprachförderung. "Ich bin begeistert zu erleben, mit welchem Engagement, welcher Neugier und Interesse am Menschen sowohl die Freiwilligen als auch die Mitarbeiter in den Einrichtungen sich vor Ort einander begegnen. Es hat sich im vergangenen Jahr gezeigt, dass der Bundesfreiwilligendienst mit Flüchtlingsbezug eine tolle Chance für alle ist, Neues über sich und andere zu lernen und gleichzeitig zu einer offenen Gesellschaft beizutragen", betont Katharina Grießhaber, die für die Fachstelle Freiwilligendienste im Bistum Limburg die Freiwilligen begleitet.