"Das Vertrauen unserer Patient*innen ist ein großes Geschenk"
Seit 1. Februar ist Dr. Eva Fucik, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, als hauptamtliche Ärztin in der Straßenambulanz für die psychiatrische und neurologische Versorgung der wohnungslosen Patient*innen zuständig. Im folgenden Text gewährt sie uns einen sehr persönlichen Einblick in ihre Arbeit in der Elisabeth-Straßenambulanz (ESA):
In der zweiten Elternzeit habe ich meine ehrenamtliche Tätigkeit in der ESA begonnen und seither hat mich die Arbeit mit Menschen, die unverschuldet krank geworden sind und dadurch alles verloren haben, nicht mehr losgelassen. Mich hat zutiefst berührt, dass viele Menschen, die "auf der Straße" leben, schwer psychisch krank sind und überwiegend nicht durch eigenes Verschulden oder eigenen Wunsch diese Lebensform wählen.
Psychische Erkrankungen sind in der Gesellschaft häufig. Bei Wohnungslosen treten sie fast dreimal so oft auf.
Eine in der Gesellschaft häufige Erkrankung sind Depressionen. Jeder kennt sicherlich Menschen, die erkrankt sind. Für Außenstehende ist das oft kaum verständlich. Die Betroffenen verändern sich, sind lustlos, Dinge bringen ihnen keine Freude mehr, es treten Schlaf- und Konzentrationsprobleme auf, sie wirken traurig, essen weniger und alles fällt ihnen schwer. An Arbeiten ist nicht mehr zu denken. Meist weiß die betroffene Person selbst nicht, was los ist, Ermunterungen helfen nicht. Organisatorisches wird nicht mehr erledigt, Fristen versäumt, Mieten nicht gezahlt und ohne Behandlung droht im schlimmsten Fall die Wohnungslosigkeit.
Das ist nur ein Beispiel für seelische Erkrankungen, die wir häufiger in der ESA sehen. Es sind Menschen, die voll im Leben stehen und plötzlich krank werden. Manchmal finden sich im Vorfeld belastende Lebensereignisse, z.B. familiäre Konflikte oder Arbeitsplatzbelastungen, aber diese sind nicht Ursache der Erkrankung.
Viele leiden unter Scham und Schuldgefühlen. "Die Straße" bietet oft die gesuchte Anonymität. Es fehlt in dieser Situation besonders an einem stützenden Umfeld. Ohne Wohnung, ohne Bleibe und teilweise ohne Versicherungsschutz steht ihnen eine fachpsychiatrische Behandlung nicht offen.
Dabei lassen sich Depressionen behandeln. Medikamente und eine Psychotherapie sind oft nötig, aber dann sind die Heilungschancen gut. Wenn Menschen wieder Vertrauen fassen, Mut schöpfen, eine Erklärung für ihren Zustand bekommen und unter Therapie ihre Schuldgefühle verlieren, da sie ihren Zustand als Krankheit anerkennen können, ist das oft der erste Schritt auf dem Weg der Besserung.
Ein weiteres Beispiel sind Psychosen, z.B. die Schizophrenie. Bei dieser Erkrankung bestehen tiefgreifende Störungen in der Wahrnehmung des Gefühlslebens, ein Verlust des Realitätsbezugs. Ein Betroffener fühlt sich beispielsweise verfolgt und bedroht oder meint vergiftet zu werden. Viele hören Stimmen. Die Erkrankten haben Angst. Im schlimmsten Fall wird die Nahrungsaufnahme eingestellt. Oder jemand verletzt sich oder andere.
Meist geht eine "Zeit der Veränderung" voraus. Viele Menschen sind getrieben, rast- und ruhelos, sie sind schlicht und einfach krank. Auch hier besteht häufig kein Krankenversicherungsschutz. Aufgrund des ausgeprägten Misstrauens wird keine Hilfe gesucht. Auch in diesen Fällen gibt es wirksame Medikamente. Die neueren, die mehr kosten, haben deutlich weniger Nebenwirkungen. Es ist immer wieder schön zu sehen, wie durch eine Behandlung plötzlich die Angst geht und der Realitätsbezug wiederkommt. Ein Patient, der 20 Jahre auf der Straße gelebt hat, konnte unter Behandlung in ein Zimmer einziehen und kann nun Hilfen annehmen.
Ein Unterschied in der psychiatrischen Arbeit ist, dass häufig kein Versicherungsschutz besteht. Zudem kommen viele nicht in die Ambulanz, sondern müssen auf der Straße aufgesucht werden. Das ist häufig ein langwieriger Beziehungsaufbau. Manchmal müssen wir aushalten, dass es nicht klappt.
Jedem Menschen steht in Deutschland eine fachärztliche Behandlung zu und ich bin froh, meinen Teil für eine Verbesserung der medizinischen Versorgung von wohnungslosen Menschen beitragen zu können. Als größtes Geschenk betrachte ich aber das große Vertrauen der Menschen, die sich an uns wenden.
Dr. Eva Fucik